„Eine Konkurrenz oder gar Widerspruch sah ich zwischen den Lagern Schulmedizin und ayurvedische Medizin zu keinem Zeitpunkt. Es ist eine Bereicherung für beide Seiten.“

Interview mit Tina Engert, Fachärztin für Allgemeinmedizin aus München

Frau Engert absolvierte den Ärzte-Ausbildungskurs „Maharishi Ayurveda Puls­­dia­gnose und Phyto­therapie“ an der Deutschen Ayurveda Akademie 2021. Das Interview wurde im Oktober 2022 geführt.

Möchten Sie uns zuerst Ihren beruflichen Werdegang aufzeigen?

Ganz klar war für mich bereits als Vierjährige, dass ich unbedingt einmal Ärztin werden wollte. Und an diesem Wunsch orientierte sich mein gesamter Lebensweg. Ob es in der Grundschule war, dass ich mich bemühte die Noten zu erreichen um später den Übergang aufs Gymnasium zu schaffen, dann einen guten Abschluss hinzulegen um einen Studienplatz in München zu erhalten… das war schon oftmals eine Überwindung mich hinzusetzen und nochmal den Stoff für den nächsten Tag zu wiederholen um ja die Zensuren zu erhalten, die mir den Weg zu meiner Berufung/Zukunft eröffneten; doch es gab nie ein Murren oder die Frage des Aufgebens, denn das Ziel hatte ich mir selbst gesteckt: Dazusein, wenn Hilfsbedarf vorlag, zuzuhören, wo keiner die Notwendigkeit dazu sah und auch dann noch am Bett eines Patienten zu weilen, wenn er sich anschickte sein Erdenkleid abzulegen.

Natürlich gibt es dazu eine entsprechende Geschichte, die mich für dieses Thema sensibilisierte: die älteste Schwester meiner Mutter erkrankte in frühen Jahren an einem bösartigen Tumor; ein Dreivierteljahr hieß es da für die Großfamilie die häusliche Pflege zu übernehmen, aber auch das miterleben wie sich ein Mensch anschickt nach drüben zu ziehen. Diese Beobachtung und die Sicherheit gebende und stärkende Begleitung des damaligen jungen Landarztes, der jeden Abend für einen kurzen Sprung zu meiner Tante und Familie kam, förderten den Wunsch später ebenso diesen Weg einzuschlagen…  

So kam es dann auch; nach meinem Abitur konnte ich unmittelbar in München mit dem Studium beginnen, verschaffte mir Einblick in der Pflege durch Tätigkeiten im Alten- und Pflegeheim als auch in Kliniken, wo ich viele Jahre studienbegleitend in einer urologischen Klinik sehr viel lernen durfte.

Es folgte nach dem dritten Staatsexamen die fünfjährige Ausbildung zur Fachärztin in der Allgemeinmedizin wobei sich bereits in den letzten Monaten die Möglichkeit einer Praxisübernahme bot. Das war zwar nie mein Bestreben, stellte sich aber im Nachhinein als absolut richtig heraus um da zu landen, wo ich heute die Art der Medizin ausüben kann, mit der ich mich identifiziere: wo es kein Verbiegen und Schönreden oder Verheimlichen gibt und es mir möglich ist mich am Abend auch noch in den Spiegel schauen zu können.  

 

Wie ist es zum Interesse an einer Weiterbildung in Ayurveda gekommen?

Als Hausärztin mit Blick über den Tellerrand war ich der Komplementärmedizin schon immer sehr zugewandt. Ayurveda selbst lernte ich erstmals im Januar 2009 bei einer Naturheilkunde-Fortbildung in München kennen, wo Dr. Ernst Schrott einen Vortrag hielt, der mich vom ersten Moment an fesselte. Seither ließ ich diese Jahresfortbildung nie unbesucht an mir vorbeiziehen und hatte für mich beschlossen diese Richtung zu vertiefen, wenn denn einmal Zeit sein sollte…

 

Wieviel Vorwissen im Bereich des Ayurveda hatten Sie bereits? 

Die jährlichen Fortbildungsangebote von Dr. Ernst Schrott in München, ein Vortrag von Dr. Ulrich Bauhofer über die Notwendigkeit des Schlafs, sowie Erfahrungen als Patientin bei Dr. Wolfgang Schachinger im Jahr 2018, inklusive ambulanter Panchakarma-Kur (dazumal noch ambulant im „Haus der Gesundheit” in Ried im Innkreis) waren bis dahin die einzigen Berührungspunkte mit Ayurveda.

 

Welche Erwartungen hatten Sie an den Ausbildungskurs „Maharishi Ayurveda Pulsdiagnose und Phytotherapie für Heilberufe”?

Die Erwartung für mich war sehr klar definiert; ich wollte eine Abhilfe in der Hochphase der Corona-Pandemie haben. Im schulmedizinischen System konnte ich keine befriedigenden Antworten und Ansätze finden mit der Pandemie sinnvoll umzugehen. So meldete ich mich für den Kurs im Herbst 2020 an und wurde wahrlich nicht enttäuscht!

„Dass das Praktizieren der ayurvedischen Medizin eine patientenorientierte und sehr individuell angepasste Medizin sein würde, war mir vom Anfang an klar, doch dass ich das auf ein großes Ganzes beziehen kann, eröffnete sich erst im Laufe des Kurses und geht tatsächlich immer noch weiter. Wo einfach die Stimmigkeit des Ganzen sich widerspiegelt im Alltag … angefangen bei den Kleinigkeiten und sich erstreckend aufs Ganze: Einfach phänomenal!

Denn eine Veränderung an einer kleinen Stelle kann Unglaubliches bewirken und verändern – und genau dieses Wissen zu nutzen macht mich jeden Tag dankbar und zuversichtlich.“ 

 

Wie sehen Sie die Kosten und der zeitliche Aufwand im Verhältnis zum praktischen Nutzen des Kurses?

Die Kursgebühren waren zum damaligen Zeitpunkt tatsächlich ein enormer Punkt für mich! Durch die Corona-bedingt veränderte Medizinausübung mit dramatischem Vergütungseinbruch, sowohl die Einnahmen durch Kassen- als auch Privatpatienten betreffend – selbst in einer so gut besuchten Hausarztpraxis wie meiner – brachte mich während der „Corona-Zeit” fast ins existenzielle Aus.

Doch die Entscheidung diese Kosten gerade zu dem Zeitpunkt zusätzlich zu investieren, waren es wert. Auch die angesetzte Lehrzeit war enorm gut für den Lernprozess; ich denke, dass der Wechsel zwischen Präsenzveranstaltung und häuslichen Webinaren top war, um das Erfahrene in der Zwischenzeit umzusetzen und zu erproben. Den Kurs zügiger durchzuführen hätte wahrscheinlich den Wissensdurst rascher gestillt, aber uns noch nicht vorbereitet genug in eine neue Wissens-Phase geworfen, der wir noch nicht gewachsen gewesen wären.

War es für Sie insgesamt schwer oder eher leicht das Wissen zu erlernen und anzuwenden?

Die Möglichkeit der Umsetzung des neu Erlernten begeisterte mich enorm;  es gab keine Grenze, ganz nach dem Motto: das musst du lernen und dann probierst du’s mal aus – es war tatsächlich fließend! Eine Sache wurde gehört und schon wurde sie am Patienten wahrgenommen, gespürt und etwas draus gemacht.

Ich fühlte mich auch nie verloren – also dass ich mit zu wenig Teilwissen auf die Menschheit losgelassen werde und ich nicht weiter wüsste … gut das ist natürlich ein riesiger Vorteil mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung – in meinem fall als Ärztin und vielen Jahren an praktischer Erfahrung,  dass es ja auch immer noch „den anderen Weg“ der Therapie für mich gab.

„Und das möchte ich auch ganz klar anmerken: eine Konkurrenz oder gar Widerspruch sah ich zwischen den Lagern Schulmedizin und ayurvedische Medizin zu keinem Zeitpunkt. Es ist eine Bereicherung für beide Seiten. Mal fließt mehr von der einen Seite mit ein und dann wieder von der anderen. Es ist ein gegenseitiges sich ergänzen, bereichern, achten – ich möchte wahrlich keine der beiden Seiten mehr missen!”

 

 

Was fällt Ihnen in Verbindung mit dem Ausbildungskurs spontan ein, wenn Sie an Erfahrungen, Begebenheiten oder Inhalte denken, die Ihnen besonders in Erinnerung geblieben sind?

Gerne möchte ich zwei mir besonders wichtige Sachen hervorheben:

Das eine ist Dr. Raju’s Aussage: „Der Puls lügt nicht“, welche sich bisher immer wieder bestätigte. Wie oft kommen Patienten mit einem strahlen und bemüht starkem Schritt zur Konsultation, weil sie es nicht gewohnt sind auch nur irgendeine Schwäche zugeben zu dürfen. Gerade diesen Menschen konnte dank der Pulsdiagnose ungemein geholfen werden sich zu öffnen, weil nicht sie den Anfang machen mussten, sondern ich einfach loslegte und somit das Eis gebrochen war ohne dass sie erst das Gefühl hatten sich geistig entblößen zu müssen.

„Und das andere ist der bemerkenswerte Einstieg bei Neupatienten, wo eine Lebensgeschichte plötzlich in sehr kurzer Zeit gemeinsam erarbeitet werden kann, da Wichtiges durch die geniale Pulsdiagnose erfühlt werden kann. Durch gezieltes Erfragen eröffnet sich eine ganz andere Darstellung, als wenn der Patient sein Leben ja nur subjektiv präsentiert, was uns dann oftmals in eine falsche Richtung blicken lässt.”

 

 

Inwiefern hat sich Ihr beruflicher Alltag nach dem Ausbildungskurs verändert? Wie kommen ayurvedische Pulsdiagnose und ayurvedische Therapievorschläge bei Ihren Patient(inn)en an?

Ich trau mich zu behaupten, dass es kaum einen Patienten gibt, der während einer Konsultation nicht irgendeinen Impuls aus dem ganzheitlichen Spektrum des ayurvedischen Gesundheitsangebotes mitbekommt. Das meiste sind Ernährungs- und Kochideen, auch die Phytopharmaka, aber auch die Tagszeitenlehre, die Anwendung der richtigen Farben, arbeiten mit Düften und Aromen, Bewegungstherapie, ganz wichtig ist die Musik, aber auch die Stille, die Meditation oder übersetzt in die westliche Form und auch meine persönliche Kraftquelle: das Gebet …

Angenommen werden diese Gedankenanstöße von den Patienten aufs herzlichste, weil das Gespür, dass wir etwas verändern müssen, was uns eine Pille alleine nicht abnehmen kann, wenn wir ehrlich sind, in einem jeden von uns eh schon schlummert.

Gestartet hab ich mit extra Sprechstunden zur Beratung der „7+1”-tägigen Reinigungskur (nach Dr. Schachinger). Doch inzwischen gibt es gar keine Trennung mehr zwischen schulmedizinischer und ayurvedischer Sprechstunde. Viele bekommen gar nicht mit, was ich im Detail mache und wie nun der Puls da mit hineinspielt – besonders bei den älteren oder dementen Patienten. Aber wie genial ist es dann, genau diesen Patienten, die sich zum Teil gar nicht mehr dazu äußern können was ihnen eigentlich fehlt, auf diesem Weg helfen zu können. Und dann gibt es die Patienten, die mir eh nicht wirklich erzählen wollen was los ist, die eben kommen, weil die Ehefrau sie schickt, die ich dann dort mittels der Pulsdiagnose abhole und Gedankenimpulse setze um ihnen auf die Sprünge zu helfen ob da oder dort vielleicht was gemacht werden müsste. 

Für mich selbst haben die letzten Worte von Dr. Schrott, die er mir bei der Verabschiedung vom Ausbildungskurs mitgab unglaublich viel bewirkt: „Du wirst es fühlen, wenns soweit ist“. Denn ayurvedisch zu arbeiten bedeutet nicht das Wissen innezuhaben und zu vermehren, sondern mit dem Fühlen und Wahrnehmen eine Lösung zu erarbeiten. Freilich stammt diese aus dem Wissen, wird aber nicht krampfhaft abgerufen und schematisch angewandt. Sondern – fühle den Puls und somit den Menschen und er wird dir damit zeigen zu welcher Therapie du ihn führst und rätst. Eine beeindruckende völlig neue, aber sehr beruhigende Arbeitsweise, die mich – ich kann’s nur wiederholen – sehr dankbar, froh und glücklich macht um ganz individuell meinem Nächsten helfen zu können.

 

Wie fanden Sie die Dozenten des Ausbildungskurses?

Top! Alle drei – Dr. Schachinger, Dr. Bauhofer, Dr. Schrott – waren absolut authentisch, Patienten-nah und glaubhaft.

 

 

Positionieren Sie sich nun verstärkt als Ayurveda-Ärztin, um „passende” Patienten zu bekommen?

Mein Motto ist: der Patient findet den Weg zum richtigen Arzt zur richtigen Zeit. Die Werbetrommel zu aktivieren ist mir gar nicht so lieb, da ich über die gut 15 Jahre hausärztliche Tätigkeit in München eine enorme Anzahl an Patienten zu versorgen habe. Mein Bestreben ist, diese Patienten mit ins Boot zu holen und für den Weg zu sensibilisieren wie wichtig und gut es doch ist ganzheitlich zu leben und im Gesamten stimmig zu sein: seine Ziele, Ideale, Wünsche und Vorhaben umzusetzen und somit Glück, Freude und Erfüllung zu finden.

 

Sie halten auf dem diesjährigen Fachkongress „Medizinische Woche“ in Baden-Baden im Rahmen der Vortragstagung der Deutschen Gesellschaft für Ayurveda e.V. den Vortrag „COVID und Long COVID – Herausforderung in der hausärztlichen Praxis”. Können Sie uns einen ganz kleinen Einblick geben, was die Zuhörer erwarten wird?

Die Botschaft des Vortrags ist die Betrachtung, dass nicht die Erkrankung selbst uns so strapaziert, sondern die Gesamtsituation. Das verlorenen Gleichgewicht stellt uns Stolperfallen, die uns den Anschein geben unseren Weg nicht mehr zu finden! Mit dem Ausgleich der Doshas – vereinfacht gesagt – gelingt es nicht nur uns selbst zu wappnen unsere Aufgaben zielsicher zu erledigen, sondern auch den Patienten, die unter COVID/long-COVID leiden zur Genesung zu verhelfen.

 

Habe ich noch etwas Wichtiges vergessen zu fragen in Bezug auf den Ausbildungskurs?

Für mich persönlich ist die wahre und reine – vielleicht auch als die ursprüngliche – ayurvedische Medizin und deren Arbeitsweise nie eine sich aufdrängende, besserwisserische und erhabene Lehre; sie bietet sich an, wird sich aber nie über das Allgemeine erheben. Warum? Weil sie naturgegeben und allgegenwärtig ist und das somit gar nicht braucht! Leider ist das, was wir teils in Vermarktungen und im Volksmund darüber hören oftmals was anderes …

 

 

Vielen Dank für das Interview!